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TR-Debatte: Verweichlicht der Rugby-Sport zusehends?
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Geschrieben von TotalRugby Team   
Mittwoch, 20. Juni 2018

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World Rugby will gefährliche Tackles komplett aus dem Spiel verbannen.

Rugby, der faire, ehrliche aber zugleich wohl härteste Mannschaftssport der Welt - so zumindest denken Anhänger des ovalen Leders gerne über ihren Sport. Doch ist dem wirklich so? Einige kontroverse Schiedsrichter-Entscheidungen in den letzten Wochen, sowie eine vom Weltverband World Rugby initiierte Testphase neuer Regeln zur Tackle-Höhe haben eine Debatte ausgelöst: Verweichlicht der Rugbysport zusehends? Prominente Ex-Spieler sehen den Charakter des Rugby-Spiels in Gefahr.

Wer hat solche Debatten im eigenen Verein mit den Veteranen der Mannschaft nicht schon einmal erlebt: Früher war Rugby noch ein richtig harter Sport. In den Rucks ging es richtig zur Sache und auch harte Tackles wurden nicht so schnell abgefpfiffen. Tatsächlich, so mag man beim Blick auf alte Highlight-Clips meinen, steckt da ein bisschen Wahrheit drin.

Rugby damals und heute? Ist unser Sport verweichlicht?

Genau dieser Meinung sind allen voran zwei bekannte Ex-Stars des Sports: Der 71-fache australische Nationalspieler und WM-Finalteilnehmer Drew Mitchell sowie Ex-All-Black und Weltmeister Brad Thorne. Beide beziehen sich dabei aktuell auf eine vor drei Wochen angekündigte Regel-Novelle, die World Rugby bei ausgewählten U20-Turnieren auf Probe einführen wird. So soll die maximal erlaubte Tackle-Höhe von den Schultern auf die Nippel wandern - eine gedachte Linie quer über den Brustkorb auf Höhe der Nippel soll dabei die absolute Obergrenze darstellen. Dazu müsse, so schreibt es das Regel-Experiment weiter vor, der Tackler sich an der Hüfte nach vorne beugen und dürfe nicht aufrecht tacklen. Damit will man beim Verband Bodychecks mit der Schulter verhindern.

Diese Änderung ist Teil der Anstrengungen von World Rugby die Zahl der Gehirnerschütterung im Rugby zu verringern. Die vom Verband angeführte Begründung, die auf einer Studie von 1500 Erstliga-Spielen beruhe: 76% aller Gehirnerschütterungen seien durch Tackle-Situationen verursacht und hoch angesetzte Tackles wiederum seien statistisch gesehen vier Mal gefährlicher als tiefe Tackles. Der lapidare Kommentar des dieser Entscheidung kritisch gegenüberstehenden Wallaby-Vizeweltmeisters Mitchell: "Rugby, so wie wir es kennen, wird es bald nicht mehr geben - dann schauen wir alle Touch-Rugby.“

Sein ehemaliger Widersacher, Ex-All-Blacks-Stürmer Brad Thorne, pflichtete ihm bei: „Was kommt als nächstes? Tackles nur noch unterhalb des Bauchnabels?“ Dessen ehemaliger Trainer Steve Hansen, der seit 2004 erst als Assistent und seit 2012 Cheftrainer der All Blacks ist, zeigte Verständnis für die Regel-Novelle. Jeder wisse schließlich, so Hansen, wo die Nippel sind und sei seien eine gute Orientierung.

Die Graubereiche und damit der Interpretationsspielraum der Schiedsrichter dürften zunehmen

Tatsächlich dürfte die nun testweise eingeführte Regelung vor allem eines bewerkstelligen: Der Regel-Graubereich und somit der Interpretationsspielraum des Unparteiischen wird nur noch größer. Diese sehen sich trotz der anspruchsvollen Aufgabe durch das große öffentliche Interesse sowieso schon viel Kritik ausgesetzt. Jedoch ist bereits unter den existierenden Regeln im Welt-Rugby keine konsistente Linie bei den Schiri-Entscheidungen in Sachen zu hoher Tackles zu erkennen. Teilweise erlebt man gar im gleichen Spiel vom gleichen Unparteiischen gänzlich verschiedene Auslegungen.

So geschehen im ersten Länderspiel Frankreichs gegen die All Blacks in Auckland vor zehn Tagen: Frankreichs Zweite Reihe-Stürmer Paul Gabrillagues kassierte für ein absolut harmloses Tackle, bei dem er Neuseeland-Innen Ryan Crotty an der Schulter zu Boden zog, Gelb. Zwei Neuseeland-Spieler hingegen fügten dem Franzosen Remy Grosso nur Minuten später mit einem Doppel-Tackle, bei dem der Frankreich-Außen erst einen Schwinger am Kinn von Sam Cane und dann eine Schulter ins Gesicht von Ofa Tuungafasi kassierte, eine zweifache Gesichts-Fraktur zu, ohne dass einer dafür mit einer Karte bestraft worden wäre.

In beiden Fallen hatte sich Schiedsrichter Luke Pearce dagegen entschieden, den Video-Schiedsrichter zu konsultieren. Im kurz zuvor beendeten Spiel zwischen Australien und Irland jedoch schaltete sich der dortige Video-Assistent kontroverserweise ein, um einen Versuch von Israel Folau abzuerkennen. Zahlreiche Phasen zuvor hatte ein Australier einen irischen Dummy-Runner getacklet, ohne dass dies das weitere Spielgeschehen beeinflusst hätte. Auch hier muss es wohl klarere Richtlinien geben, wann der TMO zu konsultieren ist.

Abgesehen von der nun erweiterten Grauzone - ist ein Tackle zu hoch oder nicht - bleibt die Frage, ob möglichst tiefe Tackles die Patent-Lösung des Gehirnerschütterungs-Problems sind. Denn während zu hoch angesetzte Tackles definitiv eine Ursache für Kopf-Verletzungen sind, können zu tiefe Tackles dies auch sein. Gerade wenn ein Tackler Kontakt mit dem Knie oder der Hüfte des Getackleten macht - sei es mit der Schulter oder gar dem Kopf - dürfte das einem Kontakt auf Nippelhöhe in keinem Fall vorzuziehen sein. So wurde das sogenannte Chop-Tackle, also ein Tackle das besonders tief gerade gegen große Ballträger beliebt ist, als Ursache für viele Verletzungen ausgemacht.

Doch in der sich gerade in den Rugby-verrückten Ländern entwickelnden Debatte wird ebenso darüber spekuliert, dass es World Rugby gar nicht nur um die Eindämmung des Gehirnerschütterungs-Problems gehe. Im weltweit beliebtesten Rugby-Podcast „Egg Chasers“, bei dem zwei Rugby-Journalisten und ein ehemaliger Zweitliga-Profi mit Gästen das aktuelle Rugby-Geschehen diskutieren, unterstellte man World Rugby vorgestern ganz andere Motive: Insgeheim wolle der Weltverband den Sport für eine breitere Zuschauerschicht, der unser Sport bisher zu brutal sei, attraktiv machen. Jedoch ist dies reine Spekulation der Podcast-Macher.

Wie mit Kollisionen in der Luft verfahren?

Kritikwürdig finden die drei Briten mit dem wöchentlichen Podcast ebenso, wie World Rugby mit Duellen in der Luft um hohe Bälle verfahre. Hierbei hat man seitens der Offiziellen die Sanktionen in den letzten Jahren extrem verschärft. Am Samstag beispielsweise wurde Frankreich-Schluss Benjamin Fall im Spiel gegen Neuseeland nach nicht einmal 15 Minuten vom Feld geschickt, nachdem er All-Blacks-Verbinder Beauden Barrett in der Luft so getroffen hatte, dass dieser auf seiner Schulter/Kopf landete und mit einer Gehirnerschütterung vom Feld musste.

Dabei hatte der Franzose für alle klar ersichtlich nur Augen für den Ball, sprang jedoch nicht so hoch wie Barrett: Der Vorfall war also zweifelsohne ein Unfall. Rein regeltechnisch, zumindest nach aktueller Auslegung, eine klare rote Karte - doch selbst das neuseeländische Publikum im Stadion von Wellington quittierte die Entscheidung mit Buhrufen und Neuseelands Rugby-Presse legte nach. Solche Entscheidungen würden den Zuschauern im Stadion und am Schirm das Spiel vermiesen.

Die rote Karte gegen Benjamin Fall - berechtigt oder übertrieben?

In der Online Ausgabe des weltweit beliebtesten Rugby-Magazins Rugby World machte BBC-Moderator Paul Williams einen Vorschlag mit dieser Problematik umzugehen: Die Einführung einer orangenen Karte. Laut Williams Ansatz wäre die rote Karte dann lediglich für grob unsportliche Akte wie Schläge oder Tritte reserviert. Orange wiederum würde bedeuten, dass eine Mannschaft 20 Minuten in numerischer Unterzahl wäre und den besagten Spieler danach auswechseln müsse. Damit seien sowohl der betroffene Spieler, als auch die Mannschaft bestraft genug, das Spiel wiederum sei aber nicht vollends ruiniert. 

Wenn man einen Blick auf den eng verwandten Rugby-League-Sport wirft, zeigt sich dort eine größere Zurückhaltung mit Karten. Die Räson dahinter: Spiele sollen nicht durch Schiri-Entscheidungen entschieden werden, sondern lediglich durch das spielerische Können auf dem Rasen. Jedoch zeigt sich gleichwohl auch, dass ohne drastische Sanktionen gewisse unsaubere Spielweisen schwer zu eliminieren sind. Dieser Weg scheint im Rugby also wenig gangbar.

Die Frage bleibt also, wie man Rugby sicherer macht und dabei gleichzeitig den physisch harten Charakter des Spiels nicht mindert. Denn die Athleten auf dem Feld werden von Jahr zu Jahr stärker und schneller, was geradezu nach Lösungen schreit. Zumindest heute scheint eine Patentlösung jedoch nicht in Sicht.

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