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Ein Jahr nach der WM: Wer ist die beste Nationalmannschaft der Welt?
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Geschrieben von TotalRugby Team   
Montag, 9. November 2020

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Die momentane Weltspitze - aktuell kann jeder jeden schlagen. Foto (c) Perlich

Mittlerweile ist es über ein Jahr her, dass sich die Springboks in Yokohama zum dritten Mal in ihrer Geschichte den WM-Titel gesichert haben. Seitdem ist viel passiert, einzig: Südafrikas Nationalteam hat nach dem Titel-Triumph nicht ein einziges Spiel absolviert. An der Spitze der Weltrangliste steht noch immer das südafrikanische Team, doch wie steht es um die Machtverhältnisse im internationalen Rugby? Wir bei TR meinen, dass es im Welt-Rugby noch selten spannender war, als heute - gleich vier Teams sind an der absoluten Weltspitze und können sich realistische Chancen auf den WM-Titel 2023 ausrechnen.

Südafrika (Weltrangliste Platz 1.)

Die Boks hätten eigentlich vorletztes Wochenende in die Rugby Championship starten sollen, die dieses Jahr komplett in Australien abgehalten wird. Nach wochenlangen Gerüchten über einen möglichen Rückzieher, verkündete der amtierende Weltmeister nur zwei Wochen vor Turnierstart seinen nicht-Teilnahme. Warum? Weltmeister-Coach Rassie Erasmus sah seine Spieler ungenügend vorbereitet, da die südafrikanische Version des Super Rugbys erst kurz zuvor gestartet wurde und keiner seiner Stars die von ihm für nötig befundenen 400 Minuten Spielpraxis hatte.

Freilich hat dies die Argentinier nicht davon abgehalten dennoch am Turnier teilzunehmen, gänzlich ohne bisherige Spielpraxis seit der Corona-Pause. Südafrika wird definitiv kein Länderspiel mehr in diesem Jahr absolvieren und bis zur Lions-Tour im Juli nächsten Jahres ist zumindest bisher kein Spiel terminiert. Für den Weltmeister kein gutes Omen, da sich in der Zwischenzeit das internationale Rugby rasend schnell weiterentwickelt und alle Konkurrenten weiterhin Länderspiele spielen und sich taktisch und technisch weiterzuentwickeln.

Schlüssel zu Südafrikas Stärke: Die Dominanz im Sturm

Steht Südafrika in dieser Situation noch immer unangefochtene an der Spitze des internationalen Rugby? Unserer Meinung nach nicht. Zunächst war Südafrika auch während der WM letztes Jahr in Japan nicht das Überteam, das beispielsweise die All Blacks 2015 waren, als sie im Vorfeld und während des Rugby World Cups das Welt-Rugby klar dominierten. In der Gruppenphase mussten sich die Boks bekanntlich Neuseeland geschlagen geben.

Das Spiel der Boks beruht auf der unglaublichen Dominanz im Sturm und darin das Risiko möglichst niedrig zu halten. Ganz entscheidend dabei: Das Duo Faf de Klerk und Handre Pollard. Einer der beiden ein extrem wichtigen Bausteine für den Erfolg wird zumindest ein Jahr lang fehlen.

Springboks-Verbinder Handré Pollard hat sich im Oktober in Diensten von Montpélier das Kreuzband gerissen und wird deshalb noch knapp ein Jahr ausfallen. Die Alternativen sind nicht überzeugend: Elton Jantjies ist ein offensivstarker Verbinder, neigt aber zu überhasteten Aktionen, die seinen Teams Spiele kosten. Den aufstrebenden Jungstars Kerwin Bosch und Damian Willemse fehlt es völlig an Erfahrung auf internationaler Bühne.

Neuseeland (Weltrangliste Platz 2.)

Aber auch die Neuseeländer können aktuell nicht an ihre vergangene Dominanz anknüpfen, trotz eines großartigen Super-Rugby-Wettbewerbs, der eigentlich ein Wettbewerbsvorteil für das neuseeländische Rugby hätte sein sollen. Hatten die All Blacks noch vor neun Tagen in Sydney mit einem Rekordsieg und 43:5 Punkten einfahren können, mussten sie diesen Samstag im vierten und letzten Duell mit den Wallabies eine ungewohnte 22:24 Pleite verkraften. Zu wenig Disziplin, ungewohnte Fehler und eine Defensive, die den Wallabies immer wieder Chancen einräumte.

Neuseeland ist dem Erzrivalen Australien immer noch ein gutes Stück voraus. Doch die Wallabies haben in der Bledisloe-Serie, die dieses Jahr auf vier Spiele erweitert wurde, aufgezeigt, wie man gegen Neuseeland spielt. Am effektivsten zeigt sich das All-Blacks-Team, wenn die gegnerische Defensive unsortiert steht - vor allem nach Turnover-Bällen. Dann ist Neuseelands Kreativ-Abteilung in Kombination mit den blitzschnellen Außen brandgefährlich und kaum zu stoppen.

Auch wegen Stars wie Richie Mo'unga immer noch das beste Konter-Team der Welt

Aber gegen eine australische Defensive, die wie am letzten Samstag aufmerksam und aggressiv verteidigte und nur wenige Offloads zuließ, wirkten die All Blacks nicht mehr wie das absolute Über-Team. Gleiches hatte England schon im Halbfinale des World Cups unter Beweis gestellt. Mit einer fehlerfreien Defensiv-Leistung und einem kompromisslosen Sturm hatte das Team von Eddie Jones den Titelfavoriten aus dem Turnier gekegelt.

Insgesamt ist die All-Blacks-Bilanz durchwachsen: Von den 15 Länderspielen, die Neuseeland 2019 und 2020 absolviert hat, konnte Neuseeland „nur“ zehn gewinnen - in den 15 Spielen davor waren es zwölf. Dazu standen die All Blacks letztes Jahr in Argentinien beim 20-16 in Buenos Aires am Rande einer Niederlage, als los Pumas in der Schlussphase die All-Blacks-Mallinie belagerten und bis auf Zentimeter an den ersten Sieg überhaupt gegen Neuseeland herankamen.

Für die erfolgsverwöhnten Neuseeland-Fans ein Graus, für das Welt-Rugby sicherlich eine gute Nachricht. Die All Blacks sind weiterhin ein großartiges Team mit einer beeindruckenden Tiefe - man bedenke nur, dass sich Coach Foster zwischen Beauden Barrett und Richie Mo’unga auf der Zehn entschieden muss - ein absolutes Luxusproblem. Dazu kommt ein Talent-Fließband, das reihenweise großartige Nachwuchs-Stars ausspuckt. Aber aktuell sind Neuseeländer wohl nur eines von vier absoluten Top-Teams.

England (Weltrangliste Platz 3.)

Vizeweltmeister England hat sich erst vor einer Woche den Six-Nations-Titel gesichert und strebt nun den Autumn Nations Cup an, wie Owen Farrell gestern den englischen Medien versicherte. Das Team von Eddie Jones kann an einem guten Tag jeden schlagen. Das hat nicht zuletzt der Halbfinalsieg über die favorisierten All Blacks gezeigt. Ein wie in besten Zeiten gefürchteter Sturm um die Vunipola-Brüder, ein geradliniges und schnörkelloses Spiel, gesteuert von Owen Farrell, und mit Johnny May einen der schnellsten Finisher im internationalen Rugby - England hat unter Jones seine Siegesformel entwickelt.

Dennoch ist England in der absoluten Weltspitze nur Mitläufer und nicht etwa Spitzenreiter.  Frankreich und Südafrika haben in den letzten zwölf Monaten gezeigt, wie man der englischen Mannschaft beikommt. Indem man im Sturm mit viel Härte Englands größten Trumpf neutralisiert und mit einer spielfreudigen Hintermannschaft die Unzulänglichkeiten in der England-Defensive nutzt. Die Springboks im WM-Finale (32:12) und die Franzosen im Auftaktspiel der Six Nations (24:17) brachten es so zu klaren Siegen gegen England.

Die Offensive Englands versucht unter Eddie Jones gegnerische Fehler zu produzieren. Gut platzierte Kicks von Owen Farrell und George Ford sollen den Gegner unter Druck setzen, so dass dessen Linie entweder unsortiert ist, oder dass man gar direkt über den schnellen May zu Punkten kommt. Dass diese Taktik ihre Grenzen hat, haben zahlreiche Teams unter Beweis gestellt, zuletzt selbst Italien. Gegen das schlechteste der Six-Nations-Teams brauchte England dringend einen hohen Sieg und wirkte zeitweise recht ratlos, angesichts der disziplinierten Defensiv-Leistung der Azzurri.

England-Fans können aber trotzdem optimistisch auf 2023 blicken - die Basis des England-Spiels steht und mit Owen Farrell, Maro Itoje, Billy Vunipola und Kyle Sinckler werden bei der WM 2023 alle im besten Rugby-Alter um die 30 sein. Lediglich auf der Neun wird England bis dahin eine Lösung finden müssen - Ben Youngs absolvierte beim Sieg in Rom sein 100. Spiel, unter Jones gilt er bisher als gesetzt. Doch im internationalen Vergleich - man denke an de Klerk, Dupont, Smith - hat England hier den wohl schwächsten Neuner, der zur WM 2023 bereits 34 sein wird.

Frankreich (Weltrangliste Platz 3.)

Zwei wenig überzeugende Siege gegen Argentinien und Tonga mit jeweils 23-21, ein souveränes aber glanzloses 33-9 gegen die USA, ein Duell mit England das Taifun Hagibis zum Opfer fiel und schließlich das Viertelfinal-Aus gegen Wales. Hätte uns vor einem Jahr jemand prognostiziert, dass Frankreich innerhalb von 12 Monaten einen massiven Entwicklungsschub macht, wären wir skeptisch gewesen.

Doch nach dem Aus im Viertelfinale nach einer roten Karte gegen Sebastién Vahaamahina, wagte man bei der XV de France den radikalen Schnitt. Mit zwei U-20-WM-Titeln in Folge und dem Blick auf die Heim-WM 2023 wagte Neu-Trainer Galthié den radikalen Schnitt. Altgediente Veteranen wie Yoann Huget, Camille Lopez, Maxime Médard, Mathieu Bastareaud und Kapitän Guilhem Guirado wurden konsequent aussortiert - dafür rückten eine Reihe von Jungstars nach und Frankreich stellte mit Abstand das jüngste Team der Six Nations.

Motor des französischen Spiels: Der erst 23-jährige Antoine Dupont

Hätte Antoine Dupont beim Sieg gegen England im Februar, im Irrglauben dass die Uhr schon abgelaufen sei, nicht den Ball in der Schlussminute ins Aus gekickt, hätte Frankreich wohl den Titel geholt. Denn mit dem geschenkten Ballbesitz holte England noch den Defensiv-Bonus, der das Turnier am Ende für den Vizeweltmeister entscheiden sollte.

Doch genau aus solchen Momenten lernt das junge Frankreich-Team um den Neuner Dupont, der soeben zum Spieler des Six-Nations-Turniers gewählt wurde. Die Kombination Dupont-Ntamack auf dem aus Halb und Verbinder bestehendem Scharnier, wie es die Franzosen nennen, war über die Six Nations hinweg das Beste. Dupont kann Chancen aus dem Nichts kreieren, läuft vorbildlich Unterstützung und Ntamack dosiert die Frankreich-Angriffe bedeutend besser, als seine Vorgänger.

Dazu ist Frankreich mit Defensiv-Trainer Shaun Edwards in der Verteidigung merklich stabiler geworden. Der Engländer, der Wales jahrelang zur besten Defensiv-Mannschaft gemacht hatte, krempelte Frankreichs Defensiv-Taktik mit Erfolg um. Die Frage ist nun: Kann Frankreich auch gegen die Südhemisphären-Teams bestehen?

Zuletzt spielte Frankreich 2018 gegen Südafrika und verlor daheim, wenn auch nur knapp. Es folgte eine weitere Niederlage gegen Fidschi. Damals noch in Frankreich-Farben: Die mittlerweile aussortierten Mathieu Bastareaud, Guilhem Guirado, Yoann Maestri, Camille Lopez und Louis Picamoles. Bis sich die jungen Wilden mit den Top-Teams der Südhemisphäre messen dürfen, wird mindestens noch ein Jahr vergehen.

Wie hier gegen England kombinierte Frankreich in den letzten zwölf Monaten Kraft und Kreativität

Das weitere Feld: Alternde Iren, junge wilde Wallabies und verblasste Waliser

Vor der WM, speziell im Herbst 2018, wäre Irland ein absoluter Anwärter gewesen. Als die Iren im November vor zwei Jahren zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit die All Blacks bezwangen, träumte ganz Irland vom Titel. Diese Hoffnung sollte sich bekanntermaßen nicht realisieren. Irland bleibt ein solides Team in der Weltspitze, ist aber aktuell gegen keines der Top-4-Teams Favorit. Dazu ist die Kombination Murray Sexton als Neun und Zehn mit einem Ablaufdatum versehen - bei der WM werden beide 38 und 34 sein und damit weit über ihren Zenit.

Australien ist das genaue Gegenteil - Neu-Trainer Dave Rennie hat gleich zehn Debütanten in den letzten vier Wochen getestet und kann aus zwei erfolgreichen U-20-Jahrgängen schöpfen. In allen Mannschaftsteilen rücken aktuell vielversprechende Youngster nach, einige ihn von ihnen haben am Samstag die Feuerprobe gegen Neuseeland bestanden. Australien ist aktuell noch zu unkonstant, befindet sich aber mit seiner Jugendoffensive auf einem guten Weg.

Australiens unerwarteter Sieg gegen Neuseeland: Das Potenzial ist vorhanden

Die Entwicklungskurven von Wales und Schottland gehen seit der WM in umgekehrte Richtungen. Während Wales nach dem nur knapp verpassten WM-Finale - mit nur drei Punkten unterlag man gegen den späteren Weltmeister Südafrika - ein Six-Nations-Turnier zum Vergessen spielte, konnte Schottland immerhin Siege gegen Frankreich und eben jene Waliser einfahren. Für beide Nationen gilt aber: Gegen die Top-Nationen des Südens dürfte man in der aktuellen Form nicht viel ausrichten können.


Argentinien hat nach einer enttäuschenden WM nun die Mammut-Aufgabe ohne jegliche Vorbereitung direkt gegen die eingespielten All Blacks und Wallabies antreten zu müssen. Für Los Pumas, die gerade daheim viel aus der frenetischen Unterstützung ihrer Fans ziehen, ein Himmelfahrtskommando.

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