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England wagt radikale Regelreform: „Der Tod des Rugbysports“ oder mehr Sicherheit für alle?
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Geschrieben von TotalRugby Team   
Sonntag, 22. Januar 2023

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Unter den neuen Regeln in England ein Straftritt: In der Bundesliga umfasst ein RKH-Spieler einen Konkurrenten vom SCN.

Wie kann man Rugby sicherer machen, ohne den Charakter des Spiels entscheidend zu verändern? Diese Frage treibt Rugby-Funktionäre um den Globus im Zuge der Gehirnerschütterungs-Debatte an. Die Verantwortlichen der Rugby Football Union, also dem Verband des Mutterlandes, der der ältestes und wohlhabendste weltweit ist, haben nun mit einer Neuregelung der Tackle-Regel für Aufsehen gesorgt. Die Kritik an der im Sommer für die Amateur-Teams in Kraft tretenden Regel ist vernichtend.

Die Spielregeln im Rugby Union sind keineswegs in Stein gemeißelt. Über die mehr als 150 Jahre hinweg, in denen unser Sport existiert, hat es unzählige Änderungen am Regelwerk des Rugby Union Football gegeben - angefangen vom Punktesystem, wie viele Zähler man für einen Versuch (von anfangs null auf mittlerweile fünf) eine Erhöhung und den später erst eingeführten Straftritt erhält, bis hin zu den fast schon turnusmäßigen Anpassungen beim Gedränge in den letzten 20 Jahren.

Im Mutterland schickt man sich nun an, die wohl einschneidendste Regelanpassung vorzunehmen, die unser Sport bisher erlebt hat. Was zunächst als Testphase startet deren endgültige Implementierung noch nicht feststeht, betrifft ab der kommenden Spielzeit fast alle Rugbyspielerinnen und Spieler aller Altersgruppen auf der Insel - mit der Ausnahme der beiden Profi-Ligen bei den Herren, sowie der Premiership bei den Damen.

Ab der neuen Saison gilt: Tacklings sind nur noch unterhalb der Taille legal

Ab der Spielzeit 2023/2024 gilt für alle Spieler verbindlich: Nur Tackles unterhalb der Höhe der Taille sind legal, alles darüber zieht mindestens einen Straftritt nach sich. Damit gilt künftig ein Großteil der Tackles, die heute auf Rugby-Plätzen weltweit üblich sind, als Foulspiel. Diesen Schritt begründet der englische Verband RFU mit Sicherheitsbedenken. Die Studienlage habe gezeigt, dass man so Kontakte Kopf gegen Kopf um bis zu zwei Drittel reduzieren könne.

Der Fokus müsse künftig aus „sicheren Tackle-Techniken liegen“, so die offizielle Verlautbarung der Rugby Football Union. Außerdem werde man, sofern sich der Erfolg auch landesweit messen lassen, World Rugby dazu animieren, diese Regelung auch auf dem Elite-Level im Vereins- und internationalen Rugby einzuführen.

De facto bedeutet dies, dass der überwiegende Teil der Aktiven im Rugby in England, laut letzten Zahlen im Erwachsenen-Bereich über 140.000 in knapp 2.000 Vereinen, nach dezidiert anderen Regeln spielen wird, als die Spitzenathleten der 34 Klubs (12 x Premiership der Herren & Damen + 12 Championship der Herren).

Das sogenannte Chop Tackle, bei dem der Tackler den Ballträger besonders tief attackiert, bleibt legal

Dieses Experiment ist mindestens gewagt, zumal die Datenbasis, die Grundlage dieser Entscheidung ist, sehr dünn ist, wie viele Kritiker anmerken. So wurde beispielsweise ein abgebrochener Versuch im semiprofessionellen englischen Premiership Cup aus der Saison 2018/2019, bei dem ebenso die Regel Tacklings nur unterhalb der Hüfthöhe galt, gar nicht erst in die Entscheidung mit einbezogen.

Der damalige Versuch wurde abgebrochen, nachdem die Zahl der Gehirnerschütterungen entgegen den Erwartungen stieg. Nicht aufgrund von Kopf-gegen-Kopf-Zusammenstößen, sondern weil die Tackler mit dem Kopf die Knie oder den Hüftknochen des Ballträgers erwischten. Der Tackler war unter dem Strich einer größeren Gefahr ausgesetzt, während das Bild bei den Ballträgern genau umgekehrt war. Stattdessen bezog man sich in der RFU auf eine Studie aus Frankreich aus dem Jugendbereich.

Jedoch untersuchte diese nur Kopfzusammenstöße, die tatsächlich um rund 60% reduziert wurden und kam zu dem Schluss, dass nach einer kompletten Saison mit 14 Teams knapp drei Gehirnerschütterungen weniger festgestellt wurden - für alle Teams über den gesamten Verlauf der Spielzeit hinweg. Diese Zahlen sind natürlich mit Vorsicht zu genießen, zumal der Vergleichszeitraum einige Jahre nach der Studie herangezogen wurde, in denen das Thema Kopfverletzungen weitaus präsenter war und vielleicht auch deshalb mehr Gehirnerschütterungen gemeldet wurde.

Die Reaktionen fallen fast ausnahmslos vernichtend aus

Die Verkündung der Neu-Regelung nach dem Beschluss des RFU-Rates erfolgte über eine Meldung seitens der RFU, ohne vorherige Konsultation der Mitgliederschaft, oder der Klubs. Diese Vorgehensweise trug zur hitzigen Debatte bei, die in Medien und unter Rugby-Verantwortlichen teils vernichtende Reaktionen hervorrief.

Ex-England-Achter Nick Easter, der mit Harlequins englischer Meister wurde, 54 Einsätze im England-Sturm sammelte und derzeit eine Mannschaft in der National 1 trainiert, die von der künftigen Regelung betroffen sein wird, nahm kein Blatt vor den Mund: „Das ist der Tod unseres Sports!“

Auch wenn Englands derzeit aktive Profis von dieser Regelung natürlich nicht betroffen sind, haben sich in den letzten Tagen dennoch einige Stars zum kontroversen Thema geäußert. Der sonst alles andere als zurückhaltende Joe Marler twitterte nur ein Emoji mit einem explodierenden Kopf als Reaktion auf die Verkündung der RFU.

England- und Gloucester-Flanker Lewis Ludlow prognostizierte: „Damit wird die Zahl der Gehirnerschütterungen im Amateur-Rugby wohl bald durch die Decke schießen.“ Exeter- und England-Außen Jack Nowell sieht damit sogar seinen Traum begraben, eines Tages wieder Mal für seinen Jugendklub aufzulaufen.

Ex-Wallaby-Prop Oliver Hoskins, der selbst an besagtem Experiment im Championship Cup teilgenommen hatte, zeigte eine mindestens ebenso negative Reaktion: „Als Spieler hängt die Wahl des Tackles von der jeweiligen Spielsituation ab, den Spielern die Wahl zu nehmen macht das Ganze wenn überhaupt gefährlicher.“

RFU hat die Reaktionen der Amateur-Spieler völlig falsch eingeschätzt

In den sozialen Medien braute sich seit der Verkündung am Donnerstag ein wahrhafter Shitstorm zusammen. Das Amateur-Rugby leidet auch in England nach der Pandemie an Spielerschwund und der fast einhellige Tenor lautet, dass diese Regelung viele alteingesessene Aktive vergraulen wird. Dazu stellten sich viele die Frage: Wie soll man künftig legal ein Pick-and-Go verteidigen, bei dem der Ballträger extrem tief in den Kontakt geht.

All das hat die RFU scheinbar aufgeschreckt, aber nicht von ihrem Plan abgebracht. Man werde entsprechende Schulungen und Trainings anbieten, damit dieser Versuch zum Erfolg werde. Die Rugby-Welt dürfte gespannt auf die Ergebnisse warten. Sollte das Experiment im Mutterland als Erfolg gewertet werden, dann könnte eine globale Einführung schon übernächste Saison erfolgen - zumindest hat sich World Rugby mit der Umsetzung von law trials in der Vergangenheit nie mehr als ein Jahr Zeit genommen.

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