Rugby und Rassismus: Diskussion über Englands Fan-Song „swing low sweet chariot“
Geschrieben von TotalRugby Team   
Freitag, 19. Juni 2020

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Unter den England-Fans in Twickenham seit 1988 ein Klassiker: Swing low, sweet chariot.

Es ist eine kontroverse Diskussion, die in England gerade über den beliebtesten Twickenham-Fansong „Swing Low“ geführt wird. Der Hintergrund: Das Lied entstammt der Sklavenzeit in den USA und wurde erstmals in Englands Rugbynationalstadion gesungen, als Ende der 1980er mit Chris Oti und Martin Offiah zwei dunkelhäutige Spieler im Trikot mit der Rose zu Stars wurden. Offiah selbst und weitere prominente Ex-England-Spieler wie Brian Moore sprechen sich dafür aus, die Verwendung des Liedes zu überdenken. Die RFU kündigt nun an, das Thema entsprechend überprüfen zu lassen.

Die Diskussion über Symbole der zum Teil grausamen britischen Kolonialvergangenheit wird im Vereinigten Königreich aktuell äußerst kontrovers geführt. Man denke nur an den Fall der Statue von Edward Colston, einem britischen Parlamentsabgeordneten und Philanthrop im 17. und 18. Jahrhundert. Dieser spendete zu Lebzeiten viel Geld an Krankenhäuser, Kirchen und Schulen, weswegen ihm in Bristol eine Statue gewidmet wurde.

Diese wurde schließlich vor knapp zwei Wochen von Demonstranten der „Black Lives Matter“ Bewegung im Hafen von Bristol versenkt. Warum? Colston hatte sein Vermögen zum großen Teil mit dem transatlantischen Sklavenhandel verdient, dem Millionen Menschen in den britischen Kolonien zum Opfer fielen und ihm unermesslichen Reichtum ermöglichte. Symbole der Vergangenheit sind in Großbritannien aktuell mehr denn je auf dem Prüfstand. Genau dies geschieht derzeit mit dem Song „Swing Low“, dessen Hintergrund unter England-Fans diskutiert wird.

Seit dem Five-Nations-Spiel England-Irland im Jahr 1988 ist er ein Dauerbrenner im Twickenham Stadium. Das Lied wurde Mitte des 19. Jahrhundert in den Südstaaten der USA von Wallace Willis geschrieben, einem dortigen befreiten Sklaven. Es bezieht sich auf die biblische Geschichte des Propheten Elija aus dem zweiten Buch der Könige, der neben dem Jordan laufend auf einem Wagen (chariot) zum Himmel entrückt. Wallace hatte sich seiner Vergangenheit als Sklave erinnert und das Lied erlebte mit der Bürgerrechtsbewegung in den USA in den 1960ern eine zweite Welle der Popularität.

Im besagten Spiel 1988 hatte England drei Jahre anhaltende sportliche Durststrecke mit einer furiosen zweiten Halbzeit und sechs Versuchen beendet. Das losgelöst feiernde Publikum fing an das Lied anzustimmen, das seit den 1960ern in Rugby-Klubs in England an gesungen wurde. Außendreiviertel Chris Oti, Englands zweiter dunkelhäutiger Nationalspieler überhaupt (82 Jahre nachdem James Peters als bis dahin einziger nicht-weißer für England aufgelaufen war), hatte an diesem Tag in seinem allerersten Spiel in Twickenham gleich drei Versuche gelegt.

Der Tag, an dem swing low zum Twickenham-Klassiker wurde

Ob das Lied eine Reaktion des Publikums auf Otis Leistung war, kann heute niemand mehr nachvollziehen. Swing low wurde zum Twickenham-Klassiker, ohne dass sich jemand Gedanken über den Kontext gemacht hätte, in dem er zu diesem geworden war. Dass aber ausgerechnet das Nationalteam der einst größten Kolonialmacht der Erde mit einem Lied aus der Sklavenzeit angefeuert wird, ist aber mindestens kurios.

Noch 2015 zur Heim-WM orchestrierte England-Hauptsponsor O2 eine Werbekampagne unter dem Hashtag #carrythemhome“, mit Bezug auf den Text des Liedes. Zeilen des Liedes sind im Spielertunnel an den Wänden aufgedruckt worden. Doch im Zuge der "Black Lives Matter“ Proteste ist nun auch dies zum Thema geworden. England-Superstar Maro Itoje, der als Sohn nigerianischer Einwanderer in London großgeworden ist, erklärte kürzlich im Interview mit der Daily Mail: „Versteht mich nicht falsch, niemand singt dieses Lied in Twickenham mit bösen Absichten, aber der Hintergrund dieses Liedes ist kompliziert.“

Der Englische Verband RFU hat zuletzt eine Überprüfung angekündigt. Martin Offiah, Ex-Nationalspieler im Rugby-League sowie Union und selbst dunkelhäutig, begrüßt den Schritt gegenüber der BBC jedenfalls explizit. Die Debatte aktuell werde emotional geführt und das sei auch nötig. Selbst wenn die RFU sich am Ende lediglich dafür einsetze, dass ethnischen Minderheiten besser gefördert würden, wäre das schon ein tolles Ergebnis, so Offiah heute.

Ex-England-Kapitänin Maggie Alphonsi wiederum, die heute als einzige dunkelhäutige Person im Rat der RFU sitzt, erklärte, dass sie persönlich aufgehört habe das Lied zu singen, nachdem sie über den Hintergrund aufgeklärt worden sei. Die 74-fache Nationalspielerin gilt als einflussreich und hatte vor zwei Wochen verkündet sich um die Präsidentschaft der RFU zu bewerben.

So sachlich die Debatte unter Ehemaligen und Funktionären geführt wird, so groß ist der Shitstorm online. In den Kommentarspalten und auf Twitter werden Vorwürfe der Zensur laut - der ehemalige England-Hakler und heutige BBC-Kommentator Brian Moore beispielsweise schreibt auf Twitter „Dinge die damals normal waren, müssen es heute nicht sein“ sowie „es hat keinerlei Relevanz für England“ - man solle das Lied zumindest überdenken.

Doch dafür kassierte er Dutzende zum Teil wütende Kommentare - „lächerlich“ und „das geht zu weit“ sind einige der milderen Umschreibungen. Gleichwohl erntet Moore auch viel Zustimmung, denn die Relevanz des Liedes im englischen Rugby-Kontext ergibt sich lediglich aus den letzten Jahren, in denen es quasi zur Tradition geworden ist. Ob swing low wieder durch das Twickenham-Stadion schallt, wenn nach der Coronapause wieder vor Publikum gespielt werden kann, ist heute zumindest fraglich.

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Kommentare (3)add comment

Alex Leiberich said:

3882
Man kann es auch übertreiben
Was kommt als nächstes?
Bevor solche Diskussionen entstehen, sollte man mal lieber die französische Nationalhymne unter die Lupe nehmen.
Und wichtig wäre bei der ganzen Betrachtung mal ein differenzierter Blick. Mag sein, dass es einen kolonialen Hintergrund gibt. Aber: In welchem Kontext wird das Lied denn angestimmt? Richtig, in einem sportlichen und um die englische Mannschaft losgelöst von jeglicher Hautfarbe zu unterstützen.
Bis jetzt hat sich auch noch kein Spieler beschwert. Der englische Verband hat ganz andere Sorgen als sich noch künstlich welche zu machen.
Juni 19, 2020

Hannes Lindenberg said:

2961
Man kann es nicht übertreiben, wenn es gegen Rassismus geht
Hallo Alex,

in dem Artikel ist eindeutig beschrieben, dass aktive Spieler (Maro Itoje) und ehemalige SpielerInnen das Lied problematisch finden. Man könnte auch sagen, "sie haben sich beschwert". Und wenn Schwarze es ablehnen, dass dieses Lied von Rugbyfans im Stadion gesungen wird, ist es in meinen Augen ziemlich egal, was der genaue Anlass ist. Denn ihre Geschichte und ihre Hautfarbe lassen sich nicht losgelöst vom Sport betrachten. Beispiel (bewusst sehr eindeutig gewähltes Beispiel, weniger komplex als das im Artikel besprochene Lied): wenn rassistische Fans ihren Hass gegenüber Schwarzen Menschen durch Affenlaute äußern, käme auch niemand auf die Idee zu sagen "Hey, das ist doch eine Sportveranstaltung und nichts Politisches!". Und wenn es politische und emotionale Gründe gibt, swinglow nicht mehr zu singen, dann kann man das auch einfach respektieren und ein anderes Lied singen.

Der englische Verband mag andere Sorgen haben, aber ich würde sagen, die sind auf jeden Fall kleiner als die Sorgen der englischen (und vmtl. jeder weiteren westlichen) Gesellschaft, wenn es um Rassismus und Dekolonialisierung geht. Deshalb ist die Debatte innerhalb des Verbandes sehr zu begrüßen.

Und Danke @Totalrugby für die spannenden Artikel. Bin gespannt, ob bzw. wann auch was über das Geschehen in Deutschland kommt.
Juni 20, 2020

Alex Leiberich said:

3882
Wo fängt es an und wo hört es auf?
Hallo Hannes,

es ist eindeutig beschrieben, dass er es "kompliziert" findet, nicht "problematisch". Was ist mit kompliziert gemeint? Darauf wird ja nicht weiter eingegangen.
Seltsamerweise haben sich Schwarze Jahre bzw. jahrzehntelang nicht beschwert (zumindest ist mir da nichts bekannt) und jetzt auf einmal?
Ich finde es durchaus wichtig, dass der Entstehungskontext nicht vergessen wird, keine Frage. Aber man sollte es eben auch historisch einordnen können und eben auch losgelöst vom historischen Kontext bewerten, wenn dies möglich ist. Und hier ist es ja ein Lied, um die englische Mannschaft zu unterstützen. Das ist doch ein deutlicher Unterschied zur Affenlauten.

Vielleicht sollte ich mich auch durch die Bezeichnung "Weißbrot" diskriminiert fühlen und eine Änderung wünschen. Oder warum wird nicht die Farbe Weiß verboten? Ist das nicht diskriminierend? Das zeigt sich ja auch schon daran, dass Statuen umgeschmissen werden... Seltsamerweise passiert das bei antiken Statuen nicht, dabei hat beispielsweise Caesar alles andere als respektvoll gehandelt und in einigen Bereichen auch diskriminierend....
Juni 20, 2020

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