„Weg vom Kirchturm-Denken“
Geschrieben von TotalRugby Team   
Mittwoch, 29. April 2020

Nils Zurawski im St. Pauli Trikot richtung Kamera blickend.
Nils Zurawski vom FC St. Pauli fordert, dass das deutsche Rugby weg vom Kirchturm-Denken muss.

Die Coronavirus-Pandemie wirbelt die Sportwelt gerade gehörig durcheinander. Während viele damit beschäftigt sind, ihre Pfründe zu sichern, sehen andere die Krise als Chance, Strukturen und Prozesse zu überdenken. Zu dieser Fraktion zählt sich auch Nils Zurawski, der Vorsitzende des FC St. Pauli Rugby und des Hamburger Rugby-Verbands. Wir haben uns mit dem meinungsstarken Hamburger unterhalten, der zu den Kritikern der geplanten Beitragserhöhung des DRV zählte.

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“, so einst Helmut Schmidt, einer der berühmtesten Söhne Hamburgs. Ein anderer Hamburger will dieser Tage aber nichts von Schmidts Motto wissen und bringt sich immer wieder mit Visionen über die Debatte zur Zukunft des deutschen Rugbys ein. Die Rede ist von Nils Zurawski, Dozent am Institut für kriminologische Sozialforschung der Uni Hamburg und Vorsitzender des FC St. Pauli Rugby.

Ende Februar hatte sich Zurawski in seiner Funktion als Chef des Hamburger Rugby-Verbands in einem offenen Brief kritisch zur geplanten Beitragserhöhung des DRV geäußert. Auf TR berichteten wir über dieses Schreiben als „Brandbrief" (TR berichtete) - eine Formulierung, mit der sich der Hamburger bis heute nicht anfreunden kann. Seine Haltung zur Gebührenerhöhung ist mittlerweile nach unzähligen Gesprächen, unter anderem auch mit DRV-Präsident Harald Hees, aber eine differenziertere.

Die finanzielle Notwendigkeit beim Verband stellt der HHRV-Vorsitzende nicht mehr in Frage. „Wir können den DRV nicht baden gehen lassen, die Rettung ist alternativlos“, wie Zurawski gegenüber TR erklärt. Gleichwohl warnt er aber, dass diese Erhöhung einigen Vereinen Schwierigkeiten bereiten werde und mahnt deshalb Alternativlösungen an. Sein FC St. Pauli könne die von der DRV-Führung angestrebte Erhöhung verkraften, auch wenn dann Mittel anderswo im Klub fehlen dürften - andere Klubs könnten dagegen in Turbulenzen geraten.

Generell diagnostiziert der Hamburger aktuell eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem DRV bei vielen Klubs und Verantwortlichen, die es zu beheben gelte. Es sei ja schließlich nicht das erste Mal, dass der Verband in finanzielle Turbulenzen geraten ist und erinnert an die Sonderumlage vor gut zehn Jahren. Langfristig werde sich das Finanzierungs-Problem nur nachhaltig mit einem erheblichen Mitglieder-Wachstum lösen, so Zurawskis feste Überzeugung.

Zurawski bei der Eröffnung des Hamburger Verbandshauses

30.000 Mitglieder im DRV als Ziel bis Ende der Dekade

Mit Blick auf die Konkurrenz sei klar: Viel zu wenige Kinder und Jugendliche spielen Rugby. „Mit 5.500 Nachwuchsspielern stehen wir im Vergleich schlecht da, der nächste Konkurrent bei den olympischen Teamsportarten ist Feldhockey mit fast zehn Mal so vielen Nachwuchsspielern“, wie Zurawski anhand der letzten Erhebung des DOSB (Statistik des DOSB) erläutert.

Lediglich indem man konsequent auf den Nachwuchs setze, könne man sich mittel- und langfristig finanzieller Probleme entledigen und zugleich auch die sportliche Perspektive des deutschen Rugbys verbessern. Dabei plädiert Zurawski für ein ambitioniertes Ziel: Bundesweit jährlich 1.500 Mitglieder zusätzlich pro Jahr und 30.000 zum Ende der Dekade. „Das würde uns erst überhaupt in die Lage versetzen andere Sachen anzupacken!“

Wachstum ohne Wolkenkuckucksheime

Welch große Herausforderung ein solches ambitioniertes Ziel darstellt, ist dem Paulianer durchaus bewusst. „Es ist nicht so, dass die in den Schulen auf uns warten, die Konkurrenz mit den anderen Sportarten ist da und nur weil wir Rugby großartig finden, müssen das andere nicht“, so Zurawski. Man werde ein gutes Angebot liefern müssen, nur so könnte man ein größeres Stück vom Kuchen ergattern.

Zugleich warnt er vor Wolkenkuckucksheimen, wie dem Traum von der Teilnahme am Rugby World Cup. Die Versuche Fünfzehner zum Profisport zu machen seien „grandios gescheitert“ und hätten die Bundesliga lediglich zu einer Farce verkommen lassen. Im Nachhinein sieht er auch seine eigene Rolle kritisch - als alle von der Rugby-WM geträumt haben, hätte er versuchen müssen, mehr Realismus in die Debatte einzubringen.

Die Krise als Chance, den Kalender und Strukturen überdenken

Künftig werde man den aktuellen Kalender sowie die Ligastruktur neu denken müssen und sich in allererster Linie vom „Kirchturmdenken“ verabschieden. Viele Entscheidungsträger seien viel zu oft lediglich mit dem Wohlergehen ihres eigenen Klubs beschäftigt - „diese Denke müssen wir überwinden - die langfristige Entwicklung und das große Ganze sollten im Vordergrund stehen“.

Gerade für den Kalender sei die aktuelle Krise eine Chance - Zurawski bringt dabei die Idee der Regionalauswahlen wieder ins Spiel, die man beispielsweise zeitlich nach der Bundesliga spielen lassen könnte, um talentierten Spielern hierzulande ein höheres Spielniveau zu ermöglichen. „Wir müssen unsere Ressourcen besser einsetzen - vielleicht täte uns eine kleine und feine Bundesliga mit weniger Teams, die gutes Rugby spielen besser“.

Seine Ideen und Visionen bringt Nils Zurawski derzeit in die Kommission zur Zukunft der Bundesliga ein. Bis zu einer Empfehlung dürfte noch einige Zeit vergehen, doch die Diskussion wird bis dahin zweifelsohne kontrovers verlaufen.

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