Six-Nations-Auftakt: Die jungen Wilden fordern den Vizeweltmeister
Geschrieben von TotalRugby Team   
Freitag, 31. Januar 2020

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Schottland muss am Samstag in Dublin antreten, alles andere, als eine leichte Aufgabe.

Das Sechs-Nationen-Turnier blickt auf eine fast 140-jährige Geschichte zurück und ist damit der älteste Rugby-Wettbewerb der Welt. Doch in diesem Jahr kommt einiges im neuen Gewand daher: Vier von sechs Teams haben neue Coaches und genauso viele Kapitäne sind neu im Amt. England ist als Vizemeister in der Favoritenrolle - doch insgeheim rechnen sich bis auf Italien insgeheim alle Teams Siegchancen aus. Uns steht ein großartiges Turnier bevor und wir blicken auf die erste von fünf Spielrunden.

Wales - Italien
Samstag 1. Februar 15:15 Uhr, Principality Stadium Cardiff (Live bei ProSieben Maxx/DAZN)

Der Grand-Slam-Sieger des Vorjahres empfängt das Team, das zuletzt vier Mal in Folge die Six Nations auf dem letzten Rang beendete. Rein auf dem Papier könnte die Ausgangslage also kaum klarer sein, speziell wenn man bedenkt, dass Italien in den letzten drei Turnieren nicht einen einzigen Sieg einfahren konnte.

Beide Teams haben sind der WM in Japan in einer Umbruchphase und haben jeweils eines ihrer bekanntesten Gesichter verloren. Während das bei Italien der legendäre Achter Sergio Parisse ist, der bei einem der beiden Heimspiele in Rom Abschied nehmen will und sonst nicht mehr Teil des Italien-Kader ist, wird Wales nach zwölf Jahren erstmals nicht mit Coach Warren Gatland in das Turnier gehen.

Der Neuseeländer hat es seit dem Herbst 2007 zum Rekord-Trainer im internationalen Rugby geschafft und Wales dabei zu vier Six-Nations-Titel und zwei Grand Slams geführt. Die absolute Krönung verfehlte er im Oktober nur denkbar knapp: Im WM-Halbfinale schied Wales denkbar knapp gegen den späteren Weltmeister aus - nach 80 Minuten trennten beide Teams lediglich drei mickrige Zähler.

Sein Nachfolger Wayne Pivac ist ausgerechnet derjenige Trainer, der gewissermaßen für Gatlands Ernennung als Wales-Coach verantwortlich war. Er hatte als Fidschi-Coach im Jahr 2007 entscheidenden Anteil daran, dass Wales in der Gruppenphase des Rugby World Cups ausschied und Gareth Jenkins seinen Stuhl für Gatland räumen müsste.

Pivac ist ebenso Neuseeländer und war zuletzt an der Renaissance der Scarlets in der Pro 14 verantwortlich, die mit dem Titel 2018 ihre Krönung fand. Auch wenn der nur wenige Monate ältere Pivac, wie Gatland selbst, von der neuseeländischen Nordinsel stammt, steht er doch für ein gänzlich anderes Spielkonzept. Seine Teams spielen weitaus offener und dynamischer, als Gatlands oftmals verschmähtes jedoch erfolgreiches Warrenball-Konzept, bei der Gegner über unzählige Phasen mit schweren Sturmläufern müde gespielt wird.

Pivac will das Spielkonzept nach und nach umstellten, ändert am Personal auf dem Feld aber erstmal nur wenig. Alun Wyn-Jones führt das Team von der zweiten Sturmreihe weiter als Kapitän an und wird mit dem Rückkehrer Taulupe Faletau in der dritten Sturmreihe namhafte Unterstützung haben.

Die Gedrängehalb-Verbinder-Kombination Tomos Williams und Dan Biggar bleibt im Vergleich zur WM unverändert und dennoch schaffen es ein paar Neulinge in den 23er-Kader für morgen: Johnny McNicoll, in Neuseeland geborener Außen wird sein Debüt geben. In der ersten Reihe wird Erste-Reihe-Stürmer Dillon Lewis, auch durch Verletzungen, in die Start-XV gespült.

Die wohl größte Enttäuschung für Wales-Fans ist, dass Youngster Louis Rees-Zammit nicht im Aufgebot steht. Der 18-jährige superschnelle Außen hatte in den letzten Monaten in der Premiership für Gloucester nach Belieben Versuche gelegt und gilt als aufregendstes Talent der Waliser. Deshalb hatten viele gehofft, dass der Teenager gegen den vermeintlich schwächsten Gegner eine Chance bekommen werde. Doch McNicholl und Josh Adams haben den Vorzug erhalten.

Bei Italien ist nach dem vorzeitigen Aus des engagierten aber schlussendlich erfolglosen Conor O’Shea ebenso ein neuer Coach im Amt. Doch der Südafrikaner Franco Smith hat in seiner Trainerlaufbahn noch kein Nationalteam betreut und weitaus weniger Erfolge vorzuweisen. Zuletzt betreute Smith vier Jahre lang das mäßig erfolgreiche Cheetahs-Team aus seiner Heimat Südafrika. Zunächst ist Smith allerdings nur auf Interimsbasis angestellt, er wird also die Six Nations nutzen müssen, um sich für eine weitere Anstellung empfehlen zu können.

Von 2003 bis 2006 war er in den letzten Jahren seiner Spielerkarriere Verbinder von Benneton Treviso, hat also zumindest ein wenig Erfahrung in Italien vorzuweisen, auch wenn diese mittlerweile anderthalb Dekaden zurückliegt. Eben jener Klub aus Norditalien hat in den letzten beiden Jahren einen signifikanten Aufschwung erlebt und zählt in der Pro 14 mittlerweile zu den besseren Klubs.

Verbinder von Benneton ist Tomasso Allan, der in Vicenza geborene Spielmacher, Sohn einer Italienerin und eines Schotten, wird unter Smith zunächst das Zehner-Shirt Italiens übernehmen. In den letzten Jahren hatten er und Carlo Canna sich die Aufgabe geteilt. Der neue Azzurri-Coach stellt Canna nun aber auf die Zwölf und kombiniert beide Spielmacher in seiner Start-XV. Grund dafür dürfte auch sein, dass mit Michele Campagnaro ein sonst gesetzter Innen nach einer schweren Knieverletzung in den Farben seines Klubs Harlequins ausfällt.

Hakler Luca Bigi wird die schwere Bürde des Kapitänsamtes von Sergio Parisse übernehmen. Anders als sein berühmter Vorgänger ist Bigi kein alles überragender Akteur, will aber als Anführer vorangehen. Für das italienische Ensemble als Ganzes könnte dies schlussendlich auch ein Vorteil sein, nicht mehr dermaßen von einem Akteur abhängig zu sein.

TotalRugby-Prognose: Zwei Teams, die sich im Umbruch befinden, treffen in der ersten Runde der Six Nations in Cardiff aufeinander. Aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon fast auf. Wales ist ein Team, das sich in zwölf Jahren unter Warren Gatland in der absolute Weltspitze etabliert hat und als Titelverteidiger ins Rennen um die Six-Nations-Krone geht. Neu-Trainer Pivac hat deshalb auch bewusst keinen großen personellen Umbruch gewagt und lieber auf Konstanz gesetzt. Sein Offload-freudiges Spiel will er nur nach und nach implementieren. Der Auftakt gegen Italien daheim dürfte da eine großartige Chance sein, das expansivere Spiel auszutesten. Denn bisher lebte Wales vor allem von der überragenden Defensive: Im Vorjahr legte das Team unter Gatland nur zehn Versuche, genauso viele wie Italien, weniger als alle anderen Teams und nicht Mal halb so viele wie England mit 24. Wales wird gegen Italien mit einem Sieg mit +22 Zählern in die Six Nations starten.

Irland - Schottland
Samstag 1. Februar 17:45 Uhr, Aviva Stadium Dublin (Live bei ProSieben Maxx/DAZN)

Zwei Teams, die eine enttäuschende WM hinter sich haben, treffen am frühen Samstag-Abend in Dublin an der Landsdowne Road aufeinander. Während Irland immerhin mit dem 27:3 aus dem Aufeinandertreffen beider Teams in der World-Cup-Gruppenphase in Yokohama im Rücken in das Heimspiel gehen wird, hat sich die Situation der Schotten seit dem Gruppenaus nicht verbessert. Ihr Star-Spieler Finn Russel hat sich mit einer Reihe von Fehltritten selbst aus dem Kader gekegelt. Der Verbinder hatte im Trainingscamp Alkohol konsumiert und war nach der Aufforderung dies zu unterlassen geflüchtet.

Die Voraussetzungen für die Schotten, die trotz enttäuschender WM an Trainer Townsend festgehalten haben, sind also bei weitem nicht optimal. Nachdem Gedrängehalb Greig Laidlaw in den internationalen Ruhestand gegangen ist, sind nun gleich beide Kreativ-Position neu besetzt. Ali Price und der erst 23 Jahre alte Adam Hastings müssen das Schottland-Spiel steuern und in ruhige Bahnen lenken. Nachdem der Russel-Vorfall für reichlich Unruhe gesorgt hat und Schottland die letzten drei Spiele gegen Irland mehr oder weniger klar verloren hat und der letzte Sieg auf irischem Boden eine Dekade zurückliegt, dürfte dies eine riesige Herausforderung werden.

Im September in Yokohama dominierte Irland die Schotten

Angeführt wird das schottische Team von Schluss Stuart Hogg. Der wohl beste schottische Spieler der letzten Jahre ist seit seinem Wechsel nach Exeter sicherlich noch einmal ein Stück weit mehr gereift. Seine spektakulären Läufe wird Schottland brauchen, um in Dublin eine Chance zu haben. Denn auch wenn Irland ebensowenig zufrieden war mit der WM, ging das direkte Aufeinandertreffen doch klar an die Boys in Green.

Die Iren haben mit Andy Farrell, dem Vater von England-Verbinder Owen, einen neuen Coach. Dieser will Medienberichten zufolge vom zaghaften Spielstil seines Vorgängers Joe Schmidt abweichen. Dieser hatte Irland zu Siegen über die All Blacks und Grand Slams geführt, scheiterte dann beim World Cup aber spektakulär. So erhält Schluss Jordan Larmour, der wohl spektakulärste irische Dreiviertelspieler, den Vorzug vor dem als sichere Wahl geltenden Rob Kearney, der es gar nicht erst in Farrells ersten Kader geschafft hat.

Im Sturm schafft es Debütant Caelan Doris direkt auf die Achter-Position. CJ Stander muss auf die Blindside als Flanker ausweichen und Peter O’Mahoney landet auf der Bank. Ulster-Hakler Rob Herring ersetzt den nunmehr im Ruhestand befindlichen Rory Best. Gleichwohl scheint Neu-Trainer Farrell zu Beginn seiner Regentschaft nicht allzu viel umwerfen zu wollen. Das überragende Spielmacher-Duo des Belfaster Klubs Ulster, bestehend aus Billy Burns und John Cooney, schafft es nicht in die Start-XV.

Der zuletzt unglaublich formstarke Cooney landet immerhin auf der Bank, Burns kommt nicht zum ersehnten Irland-Debüt. Beide hatten zuletzt in der Pro 14 und im Champions Cup überragend aufgespielt. Johny Sexton wird trotz seines nahenden 35. Geburtstag nicht ersetzt und ist gar zum Kapitän berufen worden. Dabei hatte der Weltspieler des Jahres 2018 zuletzt erneut zwei Monate verletzt aussetzen müssen. Sein üblicher Partner auf der Neun, Conor Murray, behält seinen Platz ebenso, trotz Formschwäche.

TotalRugby-Prognose: Dieses Duell in Dublin dürfte Anfangs durchaus von etwas Nervosität geprägt sein. Irland will mit dem neuen Coach Andy Farrell den Weg zu einem expansiveren Spiel finden. Die Schmach aus dem WM-Viertelfinale, das mit 14:46 gegen die All Blacks verloren ging, ist nicht vergessen. Vorerst wird es weitestgehend das alte Personal richten müssen. Immerhin hat man einen vergleichsweise dankbaren Gegner zu Gast. Ein schottisches Team, dessen größter Star nach einem wiederholten Streit mit Coach Gregor Townsend das Camp verlassen hat und durch einen vergleichsweise unerfahrenen Youngster ersetzt wurde. Irland wird sich ein wenig finden müssen, hat aber mit dem schweren und mit dem Ball schwer zu stoppenden Sturm einen riesigen Trumpf in der Hand. Wir sehen Irland, wie schon beim World Cup, vorne - wenn am Ende auch nur mit +9 Punkten daheim vor den gastierenden Schotten.

Frankreich - England
Sonntag 2. Februar 16:00 Uhr, Stade de France (Live bei ProSieben Maxx/DAZN)

Viel wurde darüber diskutiert, was Englands Coach Eddie Jones der französischen Jugendoffensive entgegensetzen würde. 48 Stunden vor Ankick musste der Australier, der das Mutterland im vergangenen Herbst immerhin ins WM-Finale führte, seine Karten offenlegen. Wieder Mal wusste Charakterkopf Jones zu überraschen. Mit George Furbank landet ein 23-jähriger Debütant auf der Schlussposition. Der zuletzt formstarke Northampton-Spieler hat ein gutes Stück Arbeit vor sich, wenn er am Sonntag in das seit langem mit über 80.000 Zuschauern ausverkaufte Stade de France einläuft.

Für seinen Klub Northampton war Schluss Furbank zuletzt in Topform, wird ihm ähnliches im Stade de France gelingen?

Dabei ist die Selektion Furbanks für englische Verhältnisse ein Vabanque-Spiel, aber kein Vergleich mit dem, was Frankreichs neuer Coach Fabian Galthié zum Heim-Auftakt aufbietet. Mit Blick auf die Heim-WM 2023 hatte der Trainer der XV de France zum radikalen Schnitt angesetzt und eine Reihe von verdienten Veteranen aussortiert (TR berichtete).

Einer von zwei Debütanten am Sonntag wird mit Schluss Anthony Bouthier ausgerechnet der älteste Spieler der Hintermannschaft sein. Der Montpelier-Schluss hatte noch vergangene Saison an der Seite von Frankreich-Legionär Chris Hilsenbeck in Vannes gespielt. Langezeit wollte der relativ schmächtige Typ nichts von einer Profi-Karriere im Rugby wissen und arbeitete, bis er 22 war, als Bauarbeiter. Doch nach nicht einmal sechs Monaten in der ersten Liga und fünf Versuchen profitiert er davon, dass gerade auf der Schluss-Position in Frankreich bedarf besteht.

Frankreichs Schluss Bouthier ist ebenso ein Debütant, mit einer ungewöhnlichen Geschichte

Die restliche Hintermannschaft der neuformierten XV de France hat es aber in sich. Die unglaublich formstarken Racing-Asse Teddy Thomas und Virimi Vakatawa auf der 13 und 14 haben zuletzt im Champions Cup mit ihren Gegnern Katz und Maus gespielt - Thomas steht dementsprechend auch an der Spitze der Tryscorer-Statistik des Europacups. Verbinder Romain Ntamack von Toulouse und die kurze Ecke Damien Penaud waren zuletzt ebenso formstark.

Die Fragezeichen sind bei den Franzosen eher beim Sturm zu finden. Trainer Galthié hat sich für ein äußerst unerfahrenes Team entschieden. Die erste Sturmreihe hat zusammengerechnet 19 Länderspieleinsätze für Frankreich - jeder der Engländer in der ersten Reihe hat mehr Caps, als die drei Franzosen zusammen. Englands Loosehead Joe Marler gar drei Mal so viele. Ein ähnliches Bild in der dritten Sturmreihe, wo Neu-Kapitän Ollivon und seine beiden Mitstreiter Cros und Alddritt auf zusammen 24 Frankreich-Einsätze kommen.

Genau hier wird England seine Vorteile suchen, im Sturmspiel. Denn die Hintermannschaft setzt sich neben Debütant Furbank komplett aus Spielern zusammen, die im Verein bei Leicester und Saracens spielen. Während Leicester rein sportlich der schlechteste Klub in England ist, werden Saracens aufgrund ihres Gehaltsskandals absteigen müssen. Dazu gibt es im England-Lager Berichten zufolge Spannungen aufgrund des Saracens-Skandals.

Im Sturm dagegen hat England weitaus mehr Erfahrung zu bieten, als die Franzosen. Abgesehen von der Achter-Position. Diese würde normalerweise von Billy Vunipola bekleidet, doch der Saracens-Stürmer hat sich vor zwei Wochen zum wiederholten Mal den Arm gebrochen und dürfte für den Rest des Turniers ausfallen. Er wird ausgerechnet durch Tom Curry ersetzt, einen gelernten Openside-Flanker. Dafür spielt auf der Sechs mit Courtney Lawes ein gelernter Zweite-Reihe-Stürmer. In der Gasse hat England dafür einen Springer mehr, dafür aber einen dynamischen Ballträger weniger.

TotalRugby-Prognose: Frankreich ist in dieser Saison die Wundertüte schlechthin. Gespickt mit einer Reihe von relativ unerfahrenen Neulingen, die aber bereits den U-20-WM-Titel holen konnten, wagt Neu-Trainer Galthié das große Experiment. Ob er damit Erfolg haben wird, ist die große Frage. Sollte sich im Stade de France ein offener Schlagabtausch entwickeln und Frankreichs durch Defensiv-Coach Shaun Edwards gestärkte Abwehr Englands Sturmlauf Englands Sturmlauf verteidigen können, haben die Gastgeber klare Vorteile. Aber sollte England das Spiel strukturiert halten und mit seinen Standards Frankreich unter Druck setzen, ist der Vizeweltmeister der klare Favorit. Insgesamt sehen wir bei TR den Vizeweltmeister leicht vorne: England mit +5 Punkten.

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